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Das Vermeidungslernen

Die Zwei-Faktoren-Theorie des Vermeidungslernens bei Phobien: klassische und operante Konditionierung, Reiz-Reaktions-Verbindung und negative Verstärkung

Viele psychische Störungen haben mit der Vermeidung von furchtauslösenden Situationen zu tun. Sei es die Furcht vor Schmutz, die sich in einem Waschzwang äußern mag, sei es die Angst vor bestimmten sozialen Interaktionen, vor engen Räumen… Viele Menschen sind von diesen Störungen betroffen und leiden darunter. Allerdings kommt der Leidensdruck erst dann zum Tragen, wenn die Konfrontation mit solchen furchtauslösenden Situationen unvermeidbar ist oder die persönliche Freiheit durch das notwendige Vermeidungsverhalten zunehmend eingeschränkt wird.
Dabei erweisen sich etwa spezifische Phobien als besonders effektiv behandelbar. Dies ist nicht zuletzt wesentlichen Erkenntnissen der Allgemeinen Psychologie zu verdanken, die Eingang in die kognitive Verhaltenstherapie gefunden haben. Sie gehen in wesentlichen Teilen auf die Arbeit Orval Hubart Mowrers (1907–1982) zurück. 1947 erschien seine wegbereitende Arbeit On the dual nature of learning: A reinterpretation of „conditioning“ and „problem solving“. Die Two-Factor Theory of Avoidance Learning postuliert für das Erlernen von Vermeidungsverhalten ein Zusammenspiel nach dem Prinzip a) der klassischen und b) der operanten Konditionierung.

a) klassische Konditionierung

Kurz formuliert besteht die klassische Konditionierung im Erlernen einer neuen Reiz-ReaktionsVerbindung. Dieser Auffassung liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine Verhaltensänderung (= Lernen) in Reaktion (response/R) auf einen Reiz (stimulus/S) erfolgt. Man spricht hier vom sogenannten R-S-Lernen. Tritt gepaart mit einem natürlicherweise eine Furchtreaktion auslösenden Reiz, wie etwa Dunkelheit, Schmerz, Lärm, ein weiterer Reiz auf, dann wird oftmals schon nach einem einzigen Lerndurchgang die natürliche Furchtreaktion nunmehr auch durch diesen neuen Reiz ausgelöst. Man spricht dann von einem konditionierten Reiz (CS, conditioned stimulus). Die natürliche Furchtreaktion (unkonditionierte Reaktion; UCR, unconditioned response) wird also nicht mehr nur durch den tatsächlich bedrohlichen Reiz (unkonditionierter Stimulus; UCS, unconditioned stimulus) ausgelöst, sondern auch durch den CS. Dasselbe Verhalten wird durch einen anderen, neuen Reiz ausgelöst. Es ist eine neue Reiz-Reaktions-Verbindung entstanden. Oftmals können von Phobien Betroffene sich an die ursprüngliche Situation, in der die Konditionierung stattfand, gar nicht mehr erinnern. So bleiben auch viele Vorlieben und
Abneigungen (etwa Geschmacksaversionen) in ihrer biografischen Entstehung völlig unklar. Eines jedoch ist deutlich: Wird die Konfrontation mit dem neuen furchtauslösenden Reiz zukünftig vermieden, können Betroffene nicht erfahren, dass dieser Reiz tatsächlich keinesfalls bedrohlich ist. Er wird lediglich als bedrohlich erlebt, weil er zusammen mit einem wirklich bedrohlichen Stimulus aufgetreten war. Die fehlende Realitätsprüfung (reality testing) verhindert diese Erfahrung jedoch. Ein Vermeidungsverhalten kann sich verfestigen. Die ursprüngliche Furcht, die vielleicht aus Kindertagen stammt, bleibt unabhängig von der weiteren psychischen Reifung des Menschen bestehen und erscheint dann als spezifische Phobie in einer aktuellen Situation als völlig unangemessen intensiv. Es entsteht ein Leidensdruck.

b) operante Konditionierung

Doch warum wird das Vermeidungsverhalten aufrecht erhalten? Hier kommt zusätzlich zur klassischen Konditionierung der zweite Faktor ins Spiel: die sogenannte operante Konditionierung. Die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens wird erhöht (= Verstärkung), wenn unmittelbar nach diesem Verhalten eine angenehme Konsequenz erfolgt. Dies kann auf zweierlei Art geschehen. Entweder, es wird ein angenehmer Reiz hinzugefügt (positive Verstärkung), oder es wird ein unangenehmer Reiz entfernt (negative Verstärkung). Das Ergebnis besteht beide Male in einem angenehmeren Zustand als vor der erfolgten Konsequenz.
Die Konfrontation mit einem furchtauslösenden Stimulus, erlernt nach dem Prinzip der klassischen Konditionierung, erweist sich selbstverständlich als unangenehm. Wird diese Konfrontation vermieden, wird wird dies als angenehm empfunden. Dies entspricht dem Prinzip der negativen Verstärkung: ein unangenehmer Reiz wird entfernt. Entsprechend wird die Auftretenswahrscheinlichkeit des unmittelbar zuvor erfolgten (Vermeidungs-)Verhaltens erhöht; das Vermeidungsverhalten wird durch Furchtreduktion verstärkt. Es schleifen sich maladaptive (schädliche, nicht nützliche) Verhaltensweisen ein.
Die negative Verstärkung gemäß den Prinzipien der operanten Konditionierung wirkt interessanterweise sowohl bei tatsächlichen Umwelteinflüssen als auch bei bloß gedanklicher Konfrontation mit dem furchtauslösenden Stimulus. Mowrer sprach von overt behavior bei tatsächlichen Reizen und Verhaltensweisen sowie von covert behavior bei Kognitionen und Emotionen. Mit Blick auf die operante Konditionierung könnten beide Formen von „Verhalten“ prinzipiell dieselbe Wirkung entfalten; und dies lange vor dem Paradigmenwechsel vom Behaviourismus zur Kognitiven Psychologie. In der Folge wird die Auseinandersetzung mit dem furchtauslösenden Stimulus sowohl in der Realität (in vivo) als auch in der Vorstellung (in sensu) vermieden (= avoidance
repression). Dies wird als angenehmer empfunden. Spätestens an dieser Stelle findet keinerlei Realitätsprüfung mehr statt.
Was bedeutet dies für die Behandlung etwa von Phobien? Wir wissen, dass die Furcht erlernt ist. Dies geschieht nach dem Prinzip der klassischen Konditionierung. Aufrecht erhalten wird die Furcht nach dem Prinzip der operanten Konditionierung, indem die Konfrontation mit dem furchtauslösenden Stimulus vermieden wird (negative Verstärkung). Wird ein Patient nun mit dem furchtauslösenden Stimulus konfrontiert (Exposition), statt die Konfrontation zu vermeiden, findet keine weitere Vermeidung und somit keine weitere negative Verstärkung mehr statt. Ohne eine weitere Verstärkung kommt es zur Löschung (Extinktion) des vormals erlernten maladaptiven (Vermeidung-)Verhaltens. Da nun gelernt wird, dass die befürchtete unangenehme Konsequenz ebenfalls nicht eintritt, treten somit der (ehemals) furchtauslösende Reiz (konditionierter Stimulus, CS) und die Furcht allmählich nicht mehr (gemeinsam) auf. Die ursprüngliche, gleichsam sinnfreie, Reiz-Reaktions-Verbindung verliert ihre Wirksamkeit.
Mit dem Wissen um die Entstehung (klassische Konditionierung; Faktor 1) und Aufrechterhaltung (operante Konditionierung; Faktor 2) von Phobien ist Therapeutinnen und Therapeuten ein mächtiges Instrument in der Behandlung an die Hand gegeben. Die Konfrontation mit dem furchtauslösenden Stimulus lässt sich dabei allerdings nicht vermeiden. Doch der Patient kann über eine graduierte Exposition (systematische Desensibilisierung) an das furchtauslösende Objekt oder die furchtauslösende Situation herangeführt werden (in sensu und in vivo). Eine weitere Möglichkeit besteht in der massierten Exposition, dem sogenannten Flooding.

Text: Dr. Lars Tischer

Bild: Pixabay