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LRS und implizites Lernen

Der Erwerb der Schriftsprache hängt nicht nur explizit von der Unterrichtung ab, sondern auch vom impliziten (unbewussten) Lernen. So zeigen Studien, dass Kinder durch häufigen Kontakt mit geschriebenen Wörtern implizit lernen, welche Buchstabenkombinationen häufig vorkommen und wie oft und unter welchen Bedingungen Laute und Buchstaben miteinander assoziiert sind. (Ise & Schulte-Körne, 2012) In einer Vergleichsstudie von Ise und Schulte-Körne (2012) fand man heraus, dass Kinder mit einer LRS sowohl im impliziten Lernen von Reihenfolgen als auch im impliziten Lernen von Regeln beeinträchtigt sind.

Bei Kindern mit einer LRS wird häufig beobachtet, dass sie Wörter direkt nach dem Üben richtig schreiben, später dann aber wieder fehlerhaft. Das Abrufen der gespeicherten Schreibweise gelingt also nicht. Beim Lesen dagegen wird deutlich, dass die automatisierte Worterkennung (der schnelle Abruf von Wortwissen aus dem orthografischen Lexikon) beeinträchtigt ist. Dadurch werden auch häufig vorkommende Wörter oft langsam und fehlerhaft vorgelesen (Ise & Schulte-Körne, 2012).

Die Rolle des impliziten Lernens beim Schriftspracherwerb:

Sowohl explizite als auch implizite Lernprozesse finden beim Lesen- und Schreibenlernen statt. Die Buchstaben-Laut-Zuordnungen werden im Elternhaus und in der Schule explizit vermittelt und geübt, allerdings beruht der Erwerb von Lesen und Schreiben nicht allein auf diesen expliziten Lernprozessen. Man geht davon aus, dass ein großer Teil des Wissens zu geschriebenen Wörtern und der Häufigkeit bestimmter Buchstabenfolgen eher beiläufig durch Kontakt mit geschriebenen Wörtern erworben wird.

Üblicherweise werden Buchstaben-Laut-Zuordnungen im Erstleseunterricht durch Anlaut-Tabellen vermittelt. Dabei lernen die Kinder die Verbindung zwischen einem Buchstaben und einem Laut, der am häufigsten mit diesem Buchstaben assoziiert wird („ A wie Apfel“). Die Kinder lernen aber auch, dass ein Buchstabe mit mehreren Lauten assoziiert werden kann – beispielsweise klingt das e in den Wörtern Esel, Ente, Hase und schnell unterschiedlich. Diese Inkonsistenz der Buchstaben-Laut-Zuordnungen wird im Unterricht kaum explizit erläutert, doch trotzdem können die meisten Kinder die Wörter in korrekter Buchstabe-Laut-Zuordnung flüssig lesen. Die naheliegende Erklärung ist das implizite Lernen, wie oft und unter welchen Bedingungen Buchstaben an bestimmte Laute gekoppelt sind. So lernt ein Kind durch das häufige Lesen von Wörtern wie Kartoffel, Löffel und Schüssel, dass die Buchstabenkombination –el am Ende eines Wortes immer gleich ausgesprochen wird und dass das e in –el anders klingt als in Emil. Diese impliziten Lernprozesse scheinen sich auch auf die Rechtschreibung übertragen zu lassen. Hier spielt das sogenannte Fragmentwissen eine Rolle, welches implizit durch den Kontakt mit wiederkehrenden Buchstabenmustern entsteht. Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von einem „stochastischen Gedächtnis“ für Buchstabenfolgen. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass Kinder bereits zu Beginn des Schriftspracherwerbs über Wissen zur Häufigkeit von Buchstabenkombinationen verfügen und dieses Wissen beim Schreiben unbekannter Wörter anwenden. Studien zeigen, dass dieses Wissen implizit ist und ohne explizite Instruktion erworben wurde (Ise & Schulte-Körne, 2012).